Bahai in Hannover: Geschichte und Gegenwart

    Die Bahai-Gemeinde in Hannover vereint Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Wurzeln. Sie hilft Religions-Flüchtlingen aus dem Iran, sich in Deutschland schnell zu integrieren und ihren Glauben im Exil endlich zu leben.

    Die Schweizer Katholikin, die den Kirchenchor und ihre Gemeinde verlässt, um mit Gott noch einmal ganz neu anzufangen. Der deutsche Uni-Absolvent, den Baha’ullahs Lehren nicht mehr losgelassen haben, seit er sie im Auslandssemester von seinem Zimmergenossen hörte. Der Sohn säkularer Muslime im Iran, der den Koran erst lieben lernte, als er zum Bahai geworden war: So international wie die Mitglieder des Geistigen Rates ist die ganze Bahai-Gemeinde in Hannover.

    Die Bahai-Gemeinde Hannover feiert das Fest Ayyam-i-Ha. Foto: Jens SchulzeAls Baha’ullah im 19. Jahrhundert in Persien die Bahai-Religion gründete, hatte er von Anfang an die ganze Welt im Blick. Sein Sohn und Nachfolger ῾Abdu’l-Bahá reiste 1912 und 1913 nach Europa und Nordamerika, um die ersten Gläubigen zu besuchen und die Offenbarungen seines Vaters bekannt zu machen. 1913 kam er auch nach Deutschland. Seine Botschaft: Die Einheit Gottes, der Menschheit und der Religionen. „Der Gedanke, dass alle Menschen eins sind, hat schon meine Kindheit im Iran geprägt“, sagt Nahid Salimi. Die aus Korea stammende Mi-Hye Park ergänzt: „Wer Bahai wird, der bringt diese Offenheit schon mit“, und ihr deutscher Mann Stephan Bayer nickt zustimmend. Sobald eine Bahai-Gemeinde groß genug ist, wählen alle Mitglieder aus ihrer Mitte einen Geistigen Rat. In Hannover war das 1956 zum ersten Mal der Fall.

    Ali Faridi kam 1968 zum Studium nach Hannover. „Multikulturelle Zusammenkünfte waren damals noch nicht üblich – bei uns schon“, erinnert er sich. Persische Geschäftsleute, Ärzte und Studenten prägten damals die Gemeinde. Doch nicht nur: Anfang der 1970er Jahre wählte die Gemeinde zwei Frauen mit deutschen Wurzeln in den Geistigen Rat. Eine von ihnen war Rita Klenz. „Spätestens jetzt war klar, dass im Geistigen Rat nur noch Deutsch gesprochen wurde“, erinnert sie sich.

    Wer Bahai wird, bringt Offenheit mit.

    Nach der iranischen Revolution wurde für die persischen Bahai eine Rückkehr in die Heimat riskant. Nach wie vor werden die Bahai als größte religiöse Minderheit im Iran brutal verfolgt. Die Gläubigen erhielten politisches Asyl in Deutschland. Inzwischen kommen auch Flüchtlinge nach Hannover, die den Glauben nur aus dem Internet kennen und im Exil endlich aktiv leben möchten. „Die Gemeinden erfahren gleich, wenn jemand Neues kommt“, sagt Ali Faridi. „Egal, wohin ich auf der Welt gehe: Es dauert keine zwei Tage, bis ich weiß, wo ich das 19-Tage-Fest feiern kann.“

    Barbara Hennings (l.) und Gita Maher bei der Eröffnung des Bahai-Zentrums in Bothfeld. Foto: HdR / Annedore Beelte-AltwigDas 19-Tage-Fest bildet den Mittelpunkt des Gemeindelebens. Mit ihm beginnt jeder Bahai-Monat. Die Gemeinde trifft sich erst zur Andacht, dann zur Beratung und schließlich zum geselligen Teil. Geistliche gibt es bei den Bahai nicht. Die Gläubigen gestalten das Gemeindeleben eigenverantwortlich und ehrenamtlich. Alle Gemeindemitglieder sind aufgerufen, sich selbst in die Glaubenslehre zu vertiefen und sie zu verkünden. Studienkreise laden Erwachsene – nicht nur Bahai – dazu ein, sich gemeinsam fortzubilden. Für Kinder gibt es Kinderklassen und Juniorjugend-Gruppen: bisher nach Bedarf, aber ein regelmäßiges Angebot ist in Planung. „Vor kurzem haben wir ein Grundstück in Isernhagen-Süd gepachtet, auf dem wir ein Zentrum errichten wollen“, berichtet Ali Faridi. Trotzdem soll das 19-Tage-Fest weiter auch in privaten Wohnungen gefeiert werden: „Das ist gemütlicher.“

    „Das hört sich jetzt vielleicht idyllisch an“, stellt Barbara Hennings klar: „Aber bei uns gibt es so wenig eine heile Welt wie anderswo. Unsere Friedlichkeit ist erarbeitet. Weil uns Streit verboten ist, müssen wir bei unseren Beratungen Wege finden, Konflikte anders zu lösen.“  Einen solchen Weg hat ῾Abdu’l-Bahá den Bahai mit dem „Beratungsprinzip“ hinterlassen: Jeder spricht seine Meinung aus. Danach gehört sie nicht mehr ihm, sondern ist Gemeingut geworden. Kritik gilt nur dem Gedanken, nicht der Person, die ihn geäußert hat. Deswegen darf niemand Kritik persönlich nehmen. „Der strahlende Funke der Wahrheit erscheint nur nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen", war ῾Abdu’l-Bahá überzeugt. „Wir sind natürlich auch nur Menschen und Kinder unserer Zeit“, fügt Barbara Hennings lächelnd hinzu. „Aber wir arbeiten dran.“

    Bahai sind überzeugt: Alle Propheten sind eine Seele

    Die Gemeinde hilft den Neuankömmlingen, sich rasch zu integrieren. Es würde nicht zu den Bahai passen, Inseln ihrer Herkunftskultur in der neuen Heimat zu bilden: Umgangssprache ist die Landessprache, und in jeder Gemeinde auf der Welt entsteht eine ganz individuelle Musiktradition. Wenn Nahid Salimi a cappella die von Bahá’u’lláh geoffenbarten Gebete auf Persisch singt, breitet sich andächtige Stille im Raum aus. Und bei geselligen Anlässen wie dem Neujahrsfest, zu dem die Bahai jedes Jahr Freunde und Nachbarn aus der Stadtgesellschaft einladen, bringt Stephan Bayer schon einmal mit englischsprachigen Bahai-Songs zur Gitarre die Füße zum Wippen.

    Mit Kulturprojekten sorgten die Bahai immer wieder öffentlich für Aufmerksamkeit. In den 1990er Jahren tourten Jugendliche mit dem „Diversity Dance Theatre“ durch Deutschland. Auch in Hannovers Fußgängerzone und im „Global House“, in dem sich die Bahai auf der Expo präsentierten, machten sie mit modernem Tanz auf globale Probleme aufmerksam.

    Kalligraphie des Größten Namen auf Persisch, auf Deutsch: Oh Herrlichkeit der Herrlichkeiten. Foto: Archiv HdRDie Bahai sind überzeugt: „Alle Propheten sind eine Seele.“ Wer Bahai wird, muss nicht aufhören, an die Religion zu glauben, in der er groß geworden ist. „Durch Baha’ullah habe ich das Christentum besser verstanden“, sagt Barbara Hennings, die vor ihrer Konversion Christin war. Ali Faridi ergänzt: „Ich habe den Islam schätzen gelernt, als ich Bahai wurde. Muslime können deswegen nicht meine Gegner sein.“

    Diese Einstellung macht die Bahai zu treibenden Kräften im interreligiösen Dialog in Hannover. Als 2008 Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates im Iran inhaftiert wurden, baten die hannoverschen Bahai Gläubige aller Religionen in der Landeshauptstadt um Unterstützung in einem gemeinschaftlichen Gebet im Haus der Religionen. Im „Forum der Religionen“, in der Regionalgruppe von „Religions for Peace“ (RfP), beim „Tag der Religionen“ und im Haus der Religionen hat die kleine Gemeinschaft entscheidende Impulse gesetzt – und setzt sie weiterhin.

    ZUM WEITERLESEN:

    Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg. v. Rat der Religionen, Hannover 2016
    Darin lesen Sie mehr über das Engagement der Bahai im interreligiösen Dialog, ihre Erwartungen an das Leben nach dem Tod und wie sie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Baha'ulah sehr wichtig war, praktisch umsetzen.

    Stephan A. Towfigh und Wafa Enayati, Die Baha'i-Religion. Ein Überblick. Reinbek/München 2014

    Nationaler Geistiger Rat der Baha'i (Hgg.), 100 Jahre Deutsche Baha'i-Gemeinde: 1900 - 2005, Hofheim 2005

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