Hindus in Hannover: Geschichte und Gegenwart

    Tamilische Flüchtlinge brachten die hinduistische Spiritualität nach Hannover und gründeten den ersten Hindu-Tempel Norddeutschlands. Das Tempelfest mit der Prozession der Göttin Amman zieht jedes Jahr im August hunderte Menschen an.

    Einmal im Jahr kommt die Göttin Muthumariamman zu den Menschen, die nicht zu ihr in den Tempel kommen können. Sechs Männer heben sie auf die Schultern und tragen sie unter einem Regen von Blütenblättern hinaus auf den Prozessionswagen. Mit ihr gehen Gläubige, die der Göttin zu Dank verpflichtet sind. Ihnen ist etwas geglückt im vergangenen Jahr: Vielleicht haben sie selbst oder eines ihrer Kinder eine Prüfung bestanden. Oder eine Krankheit ist glimpflich verlaufen. Dafür haben sie Muthumariamman etwas versprochen, und diese Schuld gilt es heute zu begleichen.

    Prozession zu Ehren der Göttin Amman (Foto: HdR/Annedore Beelte-Altwig)Frauen bringen ihr Töpfe voll Milch oder Schalen mit loderndem Feuer. Vier junge Männer legen den Prozessionsweg rollend zurück:  Sie wälzen sich über die Fliesen im Tempel und durch den Sand, der rund um das Gebäude aufgeschüttet ist. Zwei Frauen verehren die Göttin, indem sie den Weg auf Knien zurücklegen. Sie werfen sich nieder und richten sich erst wieder auf, nachdem sie mit sieben Körperstellen die Erde berührt haben. „Ich habe das schon heute Morgen getan, bevor die Leute kamen“, verrät eine andere Frau. Die Menschen müssen dabei nicht zusehen – Muthumariamman sieht es auf jeden Fall.

    Seit 2009 ist die Göttin, die auch kurz "Amman" genannt wird, in der Carl-Buderus-Straße in Hannover-Badenstedt zu Hause. Nach hinduistischem Glauben erwachen die Statuen der Götter, die makellos aus Stein gehauen sein müssen, durch die Zeremonien bei der Einweihung des Tempels zum Leben. In Hannover war ein solches Ereignis zuletzt im Jahr 2015 zu erleben: 24 Priester aus Europa und Sri Lanka weihten den zweiten Hindutempel der Landeshauptstadt in Vahrenheide ein.

    Aus Sri Lanka nach Hannover: Tamilische Flüchtlinge

    Es waren tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka, die hinduistische Spiritualität in den 1970er bis 1990er Jahren nach Deutschland brachten. „Nach der Unabhängigkeit Sri Lankas 1948 erhoben Politiker der singhalesisch-buddhistischen Mehrheit den Anspruch, die gesamte Bevölkerung zu vertreten. Wir sollten ein Land mit einer einzigen Kultur sein“, erklärt die Tamilin Rajiny Kumaraiah. Der Konflikt zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Minderheit eskalierte in den 1970er Jahren blutig. Rund 65.000 Tamilen flohen vor Pogromen, vor willkürlichen Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen durch tamilische Extremisten nach Deutschland.

    Rajiny Kumaraiah reicht Besucherinnen im Tempel das Licht der Butterlampe. (Foto: HdR/ Annedore Beelte-Altwig)„Viele konnten in den ersten Jahren über die DDR einreisen“, erklärt Rajiny Kumaraiah. Von dort aus ging es mit einem Transitvisum weiter in den Westen, wo sie  Asyl beantragten. 1985 jedoch schlossen die beiden deutschen Staaten diese Lücke. Nach einer negativen Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wurden Asylanträge von Tamilen überwiegend abgelehnt. Zahlreiche Flüchtlinge mussten ihr Leben im Exil über viele Jahre mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus meistern.

    Fast alle Flüchtlinge der ersten Generation waren Männer. Bis heute ist es verbreitet, dass tamilische Männer eine Ehefrau in der alten Heimat suchen und nach Deutschland holen – den hohen rechtlichen Hürden zum Trotz. Statistiken zeigen, dass Einwanderer aus keinem anderen Herkunftsland so selten eine deutsche Partnerin oder einen deutschen Partner heiraten.

    Als die Flüchtlinge Familien gründeten, wuchs unter ihnen der Wunsch, den Glauben und die Traditionen Sri Lankas weiterzugeben. 1994 gründeten sie den Hannoverschen Tamilischen Hindu-Kulturverein. Zunächst mietete die Gemeinde einen Raum im Freizeitheim Döhren, um dort die Götter zu  verehren. Nicht nur die religiösen Traditionen, auch Sprache und Kultur pflegt die tamilische Community in der Diaspora: Im Freizeitheim Linden kommen sonnabends rund einhundert Kinder zum Unterricht der Tamilischen Bildungsvereinigung. Der Verein unterhält überall in Deutschland Tamilische Schulen, in denen inzwischen die dritte Einwanderer-Generation Tamilisch lernt, Tänze und Bräuche aus Sri Lanka lebendig hält.

    Der erste Hindu-Tempel in Norddeutschland

    Den ersten Tempel eröffnete der Hannoversche Tamilische Hindu-Kulturverein 1995 in einem ehemaligen Fabrikgebäude in der Empelder Straße in Badenstedt. Auch dieser Vorgängerbau des heutigen Tempels war schon der Göttin Muthumariamman geweiht. In zahlreichen Dörfern Südindiens und Sri Lankas wird sie als wichtigste Dorfgöttin verehrt. „Viele Tempel in Deutschland sind Amman gewidmet“, erklärt der indisch stämmige Tamile Dr. Bala Ramani. „Sie ist sehr beliebt.“ Und es gibt noch einen praktischen Grund: „Es sind nicht so strenge Rituale vorgeschrieben wie bei anderen Göttern, wenn man den Tempel einweiht. Das ist in der Diaspora leichter umzusetzen.“

    Der Priester bedient bei der Puja die Göttin Amman (Foto: HdR)Der Hannoversche Hindu-Tempel war der erste in Norddeutschland. Schnell wurde er zu klein für die Gemeinde, und man begann, für einen Neubau zu sammeln. Gläubige Familien weit über Hannover hinaus erwarben symbolisch jeweils einen Quadratmeter des Grundstücks. „Zu bestimmten Lebensereignissen machen Hindus Stiftungen, das bringt Segen“, erklärt Rajiny Kumaraiah. Der Bau profitierte davon: 2009 konnte er eingeweiht werden. „Ich bin völlig sprachlos“, sagte der damalige Priester Shanmuga Srikumar der Neuen Presse. „So eine Einweihung ist ein überwältigendes Ereignis im Leben eines Hindus.“

    Der Tempel bietet Platz für rund einhundert Gläubige. Die Zeremonie, Puja genannt, beginnt wie in jedem Hindu-Tempel am Schrein des elefantenköpfigen Gottes Ganesha. Dabei wird die Gottheit wie ein eingeladener und verehrter Gast behandelt.  Der Gottheit wird ein Sitz bereitet, sie bekommt Waschwasser, dann werden ihr Kleidung, Wohlgerüche und Erfrischungen gereicht. Das Schwenken einer brennenden Lampe bildet in der Tempel-Puja den Höhepunkt. Nach Ganesha bedient der Priester die Göttin Amman in dem zentralen Schrein, vor dem ihr in Stein gehauenes Begleittier, der Löwe, wacht. Sein Weg führt weiter im Uhrzeigersinn zu Ganeshas Bruder Skanda, dem Gott der Tamilen, und dann zum Schrein mit den Götterfiguren, die bei der Prozession mitgeführt werden. Der Gang endet bei den Schreinen für die neun Götter der Planeten und für Bhairava, den Wächter, der seinen Platz zur rechten Seite des Eingangs hat. Seit 2017 krönt ein skulpturengeschmückter Turm den Tempel.

    Im Tempel meditiere ich, reflektiere den Tag, finde Frieden.

    „Ich verbringe abends oft zwei, drei Stunden hier“, sagt Bala Ramani. Der gebürtige Inder koordiniert an der Leibniz Universität Hannover die Partnerschaften mit indischen Universitäten. Er engagiert sich in der Tempelgemeinde und hat die „Indian Association Hannover“ gegründet. „Im Tempel meditiere ich, reflektiere den Tag, finde Frieden. Aber gleichzeitig ist der Tempel ein Treffpunkt. Wir sehen uns hier nach der Arbeit, feiern Geburtstage und Hochzeiten“, erklärt er. Mittlerweile leben mehr Inder als Sri Lanker in Hannover. Sie kommen als Studierende, als Fachkräfte oder Wissenschaftler.

    Ramani  ist überzeugt: Die beiden Hindu-Tempel und der Gurudwara der Sikh-Gemeinde tragen dazu bei, Hannover für Inder attraktiv zu machen.  „Der Amman-Tempel sieht aus wie die Tempel in Indien, er trägt die Handschrift indischer und sri lankischer Künstler. Das ist ein Stück Heimat.“  Der Experte beobachtet einen neuen Trend: „Viele Inder bleiben nicht mehr nur für ein Projekt in Hannover. Sie wollen dauerhaft hier leben.“ Es komme gut an in der Community, dass die Stadtverwaltung von sich aus Einladungen an die ausländischen Bürger verschickt, die die Kriterien für eine Einbürgerung erfüllt haben. Rund 260 Sri Lankerinnen und Sri Lanker sowie 130 Inderinnen und Inder haben diese Möglichkeit seit 2000 genutzt.

    Neuanfang in Vahrenheide: Der Ganesha-Tempel

    Ganesha beseitigt die Hindernisse.

    Kirupakara Sarma bei der Puja im Ganesha-Tempel (Foto: HdR/ Annedore Beelte-Altwig)Alles beginnt mit Ganesha“, sagt Kirupakara Sarma Subramaniyakurukal. „Er ist es, der die Hindernisse beseitigt. Für ihn sollte es in Hannover einen Tempel geben.“ Jetzt hat der Priester begonnen, sein  Vorhaben wahr zu machen. Er hat Räume im Gewerbegebiet am Alten Flughafen in Vahrenheide gemietet und einen Tempelverein gegründet, dessen Vorsitzender er ist. Kirupakara Sarma kam 1991 als junger Priester nach Hannover, um die Hindu-Gemeinde zu betreuen, und leitete die Einweihung des ersten Amman-Tempels. Seitdem arbeitet er in der Landeshauptstadt in seinem Beruf als Werkzeugmacher und gründete eine Familie.

    „Jeder Mensch hat zwei Leben, ein privates und ein soziales“, sagt er. „Privat habe ich alles erreicht. Jetzt möchte ich die Tradition weitergeben.“ Das Amt des Priesters wird in der Kaste der Brahmanen vom Vater auf den Sohn weitervererbt. Wenn Kirupakara Sarma  am Wochenende den Tempel des Elefantengottes öffnet, unterstützt ihn seine Familie: Seine Frau bewirtet die Besucher, die kleine Tochter spielt in der geräumigen Tempelhalle und der Sohn lernt, das Amt des Vaters vielleicht einmal zu übernehmen. Ihre Arbeit hier, das weiß der Priester, ist noch am Anfang. Aber das Ziel steht ihm deutlich vor Augen: Ein eigenes Grundstück, um Ganesha einen vollwertigen Tempel zu bauen.

    ZUM WEITERLESEN:

    Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg. v. Rat der Religionen, Hannover 2016

    Martin Baumann, Brigitte Luchesi, Annette Wilke (Hrsg.), Tempel und Tamilen in zweiter Heimat. Hindus aus Sri Lanka im deutschsprachigen und skandinavischen Raum. Würzburg 2003

    Johanna Buß, Hinduismus für Dummies, Weinheim 2009

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