Muslime in Hannover: Geschichte und Gegenwart

    „Das ist ein Bekenntnis zu Hannover“, sagt Alptekin Kirci, der erste Bezirksbürgermeister muslimischen Glaubens und heutige SPD-Vorsitzende in der Landeshauptstadt: „Wenn Migranten in religiöse Einrichtungen investieren, dann sagen sie damit: Wir sind hier zu Hause. Unsere Kinder und Enkel sollen hier aufwachsen.“ Nur wenige Jahrzehnte hat diese Entwicklung gedauert.

    Mohammad Afzal Qureshi (Foto: Jens Schulze)Die Muslime, die in den 1950er und frühen 60er Jahren nach Hannover kamen, waren Studenten und junge Akademiker. „In dem Alter hat man viele andere Dinge im Kopf als Religion“, sagt Dr. Hilal Al-Fahad. Den Ingenieur aus dem Irak führte in den 1980er Jahren eine Promotionsstelle an die Leibniz-Universität. Zu dieser Zeit gab es schon muslimische Gebetsräume in der Stadt. Nach dem Gebet gingen die jungen Männer wieder auseinander. „Erst, als wir geheiratet hatten und Kinder bekamen, begannen wir darüber nachzudenken, wie wichtig eine islamische Erziehung ist“, ergänzt Mohammad Afzal Qureshi. Der gebürtige Pakistaner studierte Jura in Hannover und ließ sich danach als selbständiger Dolmetscher nieder.

    Mit dem Anwerbe-Abkommen von 1961 zwischen der Bundesrepublik und der Türkei veränderte sich die muslimische Community in der Landeshauptstadt rasch: Zur relativ kleinen Gruppe der Bildungsmigranten kamen die damals so genannten „Gastarbeiter“. 1963 gab es schon knapp 600 türkische Staatsbürger in Hannover, darunter 90 Studierende und 400 Vertragsarbeiter. In der überwiegenden Mehrzahl waren beides Männer. Das Ausländergesetz von 1965 gestattete ihnen, ihre Familien nachzuholen. Allerdings dauerte es bis in die 1970er Jahre, bis das in den Familien üblich wurde. Erst als die Ehefrauen und Kinder aus der Heimat nachfolgten und Muslime in Hannover Familien gründeten, begann ein wirkliches Gemeindeleben in der Diaspora.

    Religiöse Bildung im Fokus: Die Moscheen des VIKZ

    „1969 beteten Muslime gemeinsam in einem Kellerraum des damaligen Hotel Körner in der Körnerstraße. Die Initiative dazu ging von türkischen Muslimen der Süleymancı-Gemeinschaft aus“, erklärt Dr. Günter Max Behrendt. Der Leiter des Sachgebietes Integration bei der Landeshauptstadt begleitet seit Jahrzehnten die Entwicklung der Moscheegemeinden und hat intensiv über die ersten Muslime in Hannover recherchiert. Mit ihrer guten theologischen Bildung spielten die Süleymancılar in den frühen Moscheegemeinden vieler deutscher Städte eine führende Rolle, wie die hannoversche Religionswissenschaftlerin Ina Wunn in ihrem Buch „Muslimische Gruppierungen in Deutschland“ beschreibt. Die Anhänger des türkischen Scheiks Süleyman Hilmi Tunahan (1888-1959) gründeten 1979 die älteste bis jetzt bestehende Moschee der Landeshauptstadt in der Gerberstraße 3. Bundesweit sind sie im „Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ)“ organisiert.

    Die Moschee des VIKZ in Stöcken gilt als eine der schönsten Hannovers. Foto: HdRDas Zentrum ihrer Arbeit in Hannover liegt heute in der 1996 erbauten Moschee in Stöcken. „Das ganze Haus gehört den Frauen“, sagt Mehmet Cakir vom Vorstand der Stöckener Moschee lachend. „Wir Männer dürfen eigentlich nur ins Büro und in den Gebetsraum.“ Lange haben die Gemeindemitglieder bei den Behörden dafür gekämpft, ein Schülerinnenwohnheim hier einrichten zu können. Mittlerweile gibt es zehn Wohnplätze für Mädchen, weitere Wohnungen im Haus stehen noch leer. Religiöse Bildung zu vermitteln und Nachwuchs zu fördern war schon immer ein Schwerpunkt der Süleymancı-Gemeinschaft: Der Gründer entwickelte ein Lehrsystem, mit dem er sogar Analphabeten in kurzer Zeit das Lesen des Korans und religiöser Literatur beibrachte. Bis heute wird in den Medresen (Lehrhäusern) des VIKZ diese Methode weitergegeben. Die Mädchen besuchen öffentliche Schulen in der Nachbarschaft und wohnen während der Woche im Wohnheim, betreut von einer hauptberuflichen Pädagogin und mehreren ehrenamtlichen Lehrerinnen, auf Türkisch Hoca (sprich: Hodscha) genannt.

    Am Freitagnachmittag sind Männer allerdings unter sich in dem Gebetsraum, der als einer der schönsten in Hannover gilt. Auch die sonst für Frauen reservierte Empore ist für sie geöffnet. Karohemden wechseln sich in den Reihen der Betenden ab mit den Fußballtrikots der Jugendlichen. Die Zeit für das Freitagsgebet hat die Gemeinde so gelegt, dass die Beschäftigten von Continental und VW nach Schichtende noch pünktlich kommen können. Ein Team von Imamen wechselt sich ab, um rund um die Uhr die Gebete zu gewährleisten. Die jüngeren unter ihnen sind in Deutschland geboren und an der eigenen Akademie des Verbandes in Köln ausgebildet. 2013 eröffnete der Integration und Kulturverein e.V. in Mittelfeld eine neue Moschee, die ebenfalls in der Tradition der Süleymanci-Gemeinschaft steht.

    Von der religiösen Männer-WG zur Medrese: Jama’at un Nur

    „Den Hannoveranern sind wir zum ersten Mal aufgefallen, als sich vor dem Gebäude, wo heute das Türkische Generalkonsulat ist, unsere Schuhe während des Gebets bis auf die Straße aufreihten“, berichtet Avni Altiner von der Islamischen Gemeinschaft Jama’at un Nur schmunzelnd. Anhänger dieser Gemeinschaft eröffneten 1970 eine Moschee in dem Haus an der Christuskirche. Dazu fanden Männer mit ganz verschiedenen Begabungen zusammen: Selahattin Dinçer war ein Schüler des charismatischen muslimischen Reformers Said Nursi. Letzterer hatte unter dem streng laizistischen Regime in der Türkei 27 Jahre im Gefängnis verbracht, bevor er 1960 starb. „Die Wissenschaft der Religion ist das Licht des Gewissens“, schrieb Nursi. „Die Naturwissenschaft der Zivilisation ist das Licht des Intellekts. Die Wahrheit wird offenbar durch die Vereinigung der beiden […]. Wenn sie getrennt sind, erscheint Ignoranz und Fanatismus in der Religion und Fehlschlüsse und Skeptizismus in der Wissenschaft.“

    Koranschülerin in der Medrese der Jama'at un Nur. Foto: Jens SchulzeDer belesene Dinçer traf in Hannover auf den Bauarbeiter Idris Kurnaz, der gläubiger Muslim blieb, während er mit seinen deutschen Kollegen trank und bald bestens vernetzt war. „Weiterhin hatte er Freunde wie Hasan Bilgin und Süleyman Cam“, erinnert sich Altiner. „Die dritte einflussreiche Person war eine intellektuelle Persönlichkeit aus England, Mehmet Şevket Eyği. Er war zu Besuch in Hannover und hatte die Idee der Moscheegründung.“ Für die Nursi-Schüler steht der Auftrag im Fokus, den der Engel Gabriel in seiner ersten Offenbarung an Muhammad formuliert hat: „Lies!“ „Deshalb lesen wir“, erklärt Altiner, der lange Vorsitzender der Schura, des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen, war. Der Treffpunkt der Nursi-Anhänger heißt nicht nur Moschee, sondern Medrese, „islamisches Lehrhaus“. Dinçer wollte einen Ort schaffen, an dem Muslime beten, studieren und Gastfreundschaft zeigen können. In einer ehemaligen Bäckerei in der Dieckbornstraße in Linden-Mitte eröffneten die Nursi-Anhänger eine Art religiöse Männer-WG. Hier fanden Gläubige aller islamischen Gemeinden von 1971 bis 1996 muslimische Literatur und die ersten Qur‘an-Ausgaben, die in Westeuropa gedruckt wurden: von Mitgliedern der Jama’at un Nur in Berlin.

    Als die Männer ihre Familien aus der Türkei nach Deutschland holten, öffnete sich die Medrese auch nach außen: Die Jugendlichen luden ihre Mitschüler und Lehrer und die Kirchengemeinden christlicher Freunde ein. Die heutige Medrese ist ein geräumiges Gemeindezentrum in einem Hinterhof in der Dieckbornstraße. „Wir sind die einzige Moschee in Hannover, in der der Qur‘an nicht nur gelesen, sondern auch ausgelegt wird – vor allem mit der Jugend“, sagt Efdal Nur Kaya mit Stolz. Zusammen mit ihrer Freundin Nurdan Kudu studiert sie islamische Theologie an der Universität Osnabrück und hat dabei mitgeholfen, ein Lehrhaus auch dort aufzubauen. In der Medrese in Hannover informieren beide zahlreiche Besuchergruppen über den Islam. Sie unterrichten am Wochenende die Mädchen der Gemeinde, machen Ausflüge mit ihnen und schreiben, wenn es einmal etwas ruhiger zugeht in der Medrese, am Küchentisch ihre Hausarbeiten.

    Mit zwei Moscheen in Hannover präsent: Millî Görüș

    Ayasofya Moschee der IGMG am Weidendamm (Foto: HdR)So wie der VIKZ und die Jama’at un Nur prägte auch die Islamische Gemeinschaft Millî Görüș (IGMG) von Anfang an die Geschichte des Islams in Hannover. Im Jahr 1973 wurde der „Islamische Verein der Türken in Hannover e.V.“ gegründet, aus dem nach einigen Umbenennungen 1995 der „IGMG Ortsverein Hannover“ hervorging. Die Ayasofya Moschee der IGMG am Weidendamm in der Nähe des alten Güterbahnhofs bildet seit 1982 ein Zentrum muslimischen Lebens. Bei einer Sanierung 2006/07 erhielt der schmucklose Bau dezent, aber deutlich erkennbar eine islamische Architektur mit einer Kuppel und einem angedeuteten Minarett. Um Platz für die wachsenden Aufgaben in der Regionalverwaltung und Unterrichtsräume zu haben, hat die Gemeinschaft 2015 das ehemalige Verwaltungsareal des Fotospezialisten Agfa hinzugekauft. Mehr als 600 Kinder werden in den Bildungsvereinen der Gemeinde von 75 ehrenamtlichen Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Außerdem gibt es hier mehrere Sportvereine. Ein Mentoringprogramm unterstützt Jugendliche bei ihrer Lebens- und Karriereplanung. Erwachsene bilden sich nicht nur auf religiösem Gebiet, sondern auch in Näh- und Computerkursen fort.

    Millî Görüș gilt als zweitgrößte Organisation von Muslimen in Deutschland. Der Name wird oft wörtlich mit „Nationale Sicht“ übersetzt. Die IGMG selbst wählt eine klar religiöse Übersetzung ihres Namens: „Gemeinschaft, die ihre Sichtweise und ihren Glauben auf die Gemeinschaft Abrahams zurückführt und dem Weg des Propheten Muhammad folgt“. Die religiöse Bewegung, in deren Tradition die IGMG steht, entstand in der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg in Opposition zum staatlich verordneten Laizismus. 2002 wurde mit Recep Tayyip Erdogan ein Politiker der Bewegung an die Spitze der Regierung gewählt. In Deutschland dagegen, erklärt Hacı Davut Toklu, hatte zu diesem Zeitpunkt längst eine Generation innerhalb der IGMG Verantwortung übernommen, die hier aufgewachsen ist und sich mit Deutschland identifiziert. „Wir sind angekommen und gestalten die Gesellschaft hier“, stellt der Vorsitzende des Regionalverbandes Hannover klar. „Es ist ungerecht, wenn wir als Platzhalter der türkischen Politik in Niedersachsen gesehen werden.“ Toklu koordiniert von Hannover aus 52 Ortsvereine, organisiert die Ausbildung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern und ist Ansprechpartner der IGMG für die Landespolitik.

    Die IGMG wird in den meisten Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet. Hier gibt es derzeit eine Trendwende. Im November 2015 erklärte das niedersächsische Innenministerium: „Da kein politischer Extremismus mehr nachweisbar ist, sammeln die Sicherheitsbehörden keine Informationen mehr zu Strukturen der IGMG in Niedersachsen.“ Toklu ist überzeugt, dass in der Vergangenheit viel Misstrauen durch fehlende Kommunikation mit den Behörden entstanden ist: „Damals gab es Barrieren auf beiden Seiten. Heute reden wir miteinander.“ Dass sich aber schon die Gründergeneration in Deutschland zu Hause fühlte und nicht in Richtung Türkei orientierte, zeigt sich für ihn schon daran, dass sie das Gebäude am Weidendamm bereits 1982 als Eigentum erworben haben. Viele Mitglieder bekamen die Folgen der Beobachtung schmerzlich zu spüren, erklärt Toklu: „Sie erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft nicht.“

    Haci Davut Toklu in der Kleidung des Vorbeters in der Moschee in Misburg. Foto: HdR / Beelte-AltwigSeit 1995 ist die IGMG auch im Stadtteil Misburg aktiv. 2012 hat die Gemeinde die ehemalige Post direkt neben der evangelischen Johanniskirche gekauft und zum Moscheezentrum umgestaltet. „Im Interreligiösen Arbeitskreis in Misburg arbeiten wir intensiv mit den christlichen Gemeinden zusammen. Es gibt ein gemeinsames Friedensgebet, und die erweiterte Straßenbahnlinie 7 haben wir 2014 zusammen eingeweiht“, erzählt Hacı Davut Toklu. In einem Pilotprojekt hat das türkische Ministerium für religiöse Angelegenheiten der Gemeinde einen Imam aus der Türkei gestellt. In der Ayasofya-Moschee dagegen leiten meist Gemeindemitglieder ehrenamtlich das Gemeinschaftsgebet.

    Ein Stück Heimat für türkischstämmige Muslime: DITIB und ATIB

    Die türkischen Muslime, die die ersten Moscheegemeinden in Hannover gründeten, gehörten Gemeinschaften an, die zum türkischen Staat mit seiner streng laizistischen Politik in Opposition standen. Für einige Gläubige mag dies sogar ein Grund für ihre Auswanderung gewesen sein. In Deutschland erlebten sie zum ersten Mal Religionsfreiheit und konnten offen ihren Glauben leben. Seit den 1980er Jahren nimmt sich auch die türkische Regierung der religiösen Bedürfnisse ihrer Bürger in der deutschen Diaspora an. 1984 wurde in Köln die Türkisch-Islamische Anstalt für Religion (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, kurz DITIB) gegründet, die mit dem türkischen Ministerium für religiöse Angelegenheiten kooperiert und inzwischen die größte muslimische Gemeinschaft in Deutschland darstellt.

    1987 entstand auch in Hannover der „Türkisch-republikanisch-islamische Religions- und Kulturverein“ als selbständiger Moscheeverein unter dem Dach der DITIB. Die Merkez Moschee in der Stiftstraße ist beides: Ein Stück Heimat für türkischstämmige Menschen aller Generationen und zentral gelegener Treffpunkt zwischen Universität und Innenstadt für mehr als tausend Muslime zum Freitagsgebet. Die Betenden verteilen sich auf mehrere Räume des ehemaligen Druckereigebäudes. Mit Lautsprechern werden die Worte des Imams in alle Räume übertragen. „An Festtagen wird es hier so voll, dass Besucher ihre Gebetsteppiche im Hof und im Büro ausrollen müssen“, sagt Abdullah Güldogan vom Vorstand der Gemeinde.

    Hier wird die türkische Sprache und Kultur gepflegt: Interessierte können türkische Literatur aus der Bibliothek ausleihen oder die historische osmanische Sprache erlernen, die in arabischer Schrift geschrieben wird. Die Familien feiern am 23. April den türkischen Kinderfesttag. Wie bei DITIB üblich, wechselt der Imam nach einigen Jahren. Er wird vom türkischen Religionsministerium nach Deutschland entsandt und genießt einen Diplomatenstatus. „Unseren älteren Mitgliedern ist es sehr wichtig, dass der Imam eine gute theologische Ausbildung mitbringt und die Gebete so hält, wie sie es gewohnt sind“, erklärt Abdullah Güldogan.

    Vor einigen Jahren hat der Dachverband ein Haus an der Otto-Brenner-Straße erworben. Der Umbau zu einem Bildungszentrum mit einem Saal für Feierlichkeiten, einem Reisebüro für Pilgerfahrten und Büroräumen für den DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen e.V., den Landesfrauen- und den Landesjugendverband ist gestartet. Weiter gibt es dort eine Buchhandlung mit Waren für den religiösen Bedarf. Seit 2014 gibt es noch eine weitere DITIB-Moschee in Bothfeld-Vahrenheide.

    Die 1986 eröffnete Haci Bayram Moschee in Linden-Nord gehört zur Türkisch-Islamischen Union in Europa (ATIB). Das Ziel des Moscheevereins ist, wie es auf seiner Internetseite heißt, „die kulturelle und religiöse Identität der türkischstämmigen Einwanderer in Deutschland zu pflegen, zu bewahren und sie als Bereicherung in die deutsche Gesellschaft zu integrieren“. Die ATIB ist aus der Ülkücü- (Idealisten-)Bewegung hervorgegangen, die gegen Ende des Osmanischen Reiches entstand und deren Anhänger umgangssprachlich auch „Graue Wölfe“ genannt werden. Die Idealisten vertreten ein alles verbindendes Türkentum jenseits von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden. Das hat immer wieder zu Konflikten mit türkischstämmigen Minderheiten wie Kurden, Aleviten oder Eziden geführt.

    Auf ihrer Internetseite bekennt sich die Gemeinde zum Dialog: „ATIB setzt sich für die Förderung der Völkerverständigung, für Akzeptanz und Freundschaft der unterschiedlichen Kulturen ein“ (abgerufen im Mai 2016; Hinweis 2020: seit 2019 wird ATIB im Verfassungsschutzbericht des Bundes erwähnt; "anders als von der ATİB nach außen propagiert, erzeugt der Dachverband eine desintegrative Wirkung und fördert einen türkischen Nationalismus
    mit rechtsextremistischen Einflüssen" [S. 260]). Nach ihren Angaben wird die Moschee auch von Kurden, Afrikanern und Pakistanern besucht. „Der Imam kommt aus der Türkei und wird von der Diyanet gestellt und vergütet“, erklärt der Vizepräsident der ATIB Jugend Hannover. Beim „Tag der Offenen Moschee“ am 3. Oktober öffnet die Haci Bayram Moschee neben vielen anderen Gebetshäusern ihre Türen für Interessierte.

    Der Ülkücü-Bewegung ordnet das niedersächsische Innenministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von 2013 auch den Verein „Türkische Familienunion Hannover und Umgebung“ e. V. in der Brüderstraße 2 zu. Die Familienunion selbst beschreibt sich als unabhängiger Verein. Nach telefonischer Auskunft versteht sie sich nicht als Moscheegemeinde, auch wenn sie einen Gebetsraum unterhält.

    Sunnitische Gemeinden unterschiedlicher Sprachen und Herkunftsländer

    Die Muslime aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Europa und Afrika beteten zunächst mit in den türkischen Moscheen. „Aber die Sprachbarriere verhinderte, dass sie in den Gemeinden integriert werden konnten“, erklärt Hilal Al-Fahad. Die „Masjid-El-Ummah“ wurde 1992 mit dem Anspruch gegründet, Muslimen aller Herkunftsländer eine spirituelle Heimat zu geben. „Masjid“ bedeutet „Moschee“ (Begegnungsstätte) auf Arabisch, „Ummah“ meint die muslimische Gemeinschaft. Pakistanische Muslime um Mohammad Afzal Qureshi übernahmen die Leitung und Verwaltung. Schnell wurde die Moschee am Vahrenwalder Platz zum Anziehungspunkt für Studenten, Akademiker und Arbeitnehmer.

    Deutsch ist die Sprache, die alle verbindet.

    „Wir waren die erste Moschee in Hannover, in der die Freitagspredigt auf Deutsch gehalten wurde“, erinnert sich der Gründer Qureshi. Deutsch ist nach wie vor die verbindende Sprache für alle Besucher. Einen Grundsatz muss jeder akzeptieren, der hier betet: Die Gemeinde soll aus allen nationalen und internationalen Konflikten herausgehalten werden. Die wachsende Gemeinde zog zunächst um in die Kornstraße 25 und erwarb 2006 ein Gebäude Am Listholze, nahe Vier Grenzen: Ein Schritt hinaus aus den Stadtvierteln Nordstadt und Linden, die von Einwanderern und Studierenden geprägt wurden, und zu mehr religiöser Vielfalt in einem „bürgerlichen“ Viertel.

    Dr. Hilal Al-Fahad im Islamischen Familienzentrum. Foto: HdR / Cordula Canisius-Yavuz„Eigentlich hatten wir ein Gebäude für noch mehr Gläubige gesucht“, erinnert sich Hilal Al-Fahad. Doch die Entwicklung verlief anders: Die muslimische Gemeinschaft differenziert sich immer weiter in verschiedene Moscheevereine. Dabei spielen theologische Unterschiede eine Rolle, vor allem aber verbindet die gemeinsame Sprache und Herkunft die Mitglieder der neu gegründeten Vereine. Dieser Trend, der sich seit den 1990er Jahren in Hannover abzeichnet, lässt sich auch bundesweit beobachten: Es werden Immobilien erworben, Moscheen gebaut oder bestehende erweitert. Vielleicht ist es kein Zufall, dass zur gleichen Zeit die Politik mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht anerkannte, dass Deutschland zum Einwanderungsland geworden ist: In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern können seit 2000 die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, die Einbürgerung Erwachsener wurde erheblich erleichtert.

    In den ehemaligen Räumen der Ummah-Moschee am Vahrenwalder Platz beten heute syrische und libanesische Muslime. Dr. Hilal Al-Fahad engagiert sich inzwischen als Religionslehrer und Beauftragter für den interreligiösen Dialog und die Öffentlichkeitsarbeit im Islamischen Familienzentrum nahe dem Steintor. Die Moschee wurde 2006 von kurdischen Muslimen aus dem Irak und der Türkei eröffnet. Zahlreiche Schulklassen und erwachsene Besuchergruppen haben hier schon von Hilal Al-Fahad eine Einführung in den Islam erhalten.

    Familien aus westafrikanischen Ländern wie Togo, Ghana, Benin und Gambia schlossen sich zur African Muslim Union zusammen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie der Volksgruppe der Haussa angehören. Wer den Eingang über die Hofeinfahrt kennt, findet im Souterrain des Hauses Arndtstraße 10 einen kleinen Laden mit westafrikanischen Spezialitäten und islamischer Kleidung. Während die Männer im Gebetsraum das Freitagsgebet verrichten, zeigt die Live-Übertragung im Laden, dass in Mekka in diesem Moment genau die gleichen Worte rezitiert werden.

    In Hannovers Nordstadt und um den benachbarten Klagesmarkt herum hat sich die Moscheenlandschaft besonders dynamisch entwickelt: In neun muslimischen Vereinen wird hier gebetet. Allein in der Kornstraße finden sich zwei Moscheen und die Alevitische Gemeinde, die manche ebenfalls dem Islam zurechnen. Gläubige aus verschiedenen arabischsprachigen Ländern gründeten 2000 die Gesellschaft Islam verstehen e.V. und eröffneten in dem Haus Nummer 38, das heute der Alevitischen Gemeinde gehört, die al Huda Moschee. 2003 erwarb der Verein ein ehemaliges Autohaus direkt gegenüber (Nr. 35) und baute es zu einem lichtdurchfluteten Moscheezentrum um. Anderes als in den meisten Moscheegemeinden liegt der Schwerpunkt hier nicht auf der Arbeit mit Kindern und Familien. Hier beten viele Studierende und junge Erwachsene. Eine Zeit lang traf sich in der al Huda Moschee auch die „Islamische Frauengemeinschaft Hannover e.V.“, die sich inzwischen aufgelöst hat.

    In der Kornstraße 25, auch einem ehemaligen Domizil der Ummah-Gemeinde und später des Islamischen Familienzentrums, lehrt der Deutschsprachige Islamkreis einen „Islam in seiner ursprünglichen und reinen Form (gemäß dem Koran und der authentischen Überlieferungen des Propheten - Friede und Segen auf Ihm)“, wie es auf seiner Internetseite heißt. Dieses oft als salafistisch beschriebene Verständnis umgeht die jahrhundertelange Tradition der Koranauslegung und versucht, sich intellektuell direkt in das 7. Jahrhundert zurückzuversetzen. Andere Religionen, namentlich Buddhismus und Christentum, wurden bis vor kurzem noch auf der Internetseite als „falsche Religionen“, „Polytheismus“ und „Götzendienst“, der „die einzige nicht zu vergebende Sünde“ sei, diskreditiert. (Abgerufen am 07.07.15) 2009 war der radikale Prediger Pierre Vogel in der Kornstraße 25 zu Gast.

    Die „Völkerübergreifende Gemeinschaft des gegenseitigen Kennenlernens“ im Herzen der Nordstadt ist ein Treffpunkt für Muslime mit marokkanischen Wurzeln. Der 1993 gegründete Verein hatte zunächst Räume in Döhren gemietet. Seit 2003 bauen die Aktiven ein ehemaliges Getränkelager in der Asternstraße 10 Geschoss für Geschoss zu einem repräsentativen Moscheezentrum mit Laden, Büros und Unterrichtsräumen um. Junge Familienväter haben mittlerweile die ältere Einwanderergeneration im Vorstand beerbt und machen sich für Kinder und Familien stark. „Wir möchten den Kindern Ausflüge und Feste bieten, wie sie es aus der Schule auch kennen“, sagt der Vorsitzende Yussef Barrahmuni. Das marokkanische Religionsministerium unterstützt die Auslandsgemeinden. Durch seine Vermittlung hat die Gemeinde einen staatlich geprüften Imam aus Marokko nach Hannover geholt und angestellt. 

    Für afghanische sunnitische Muslime gibt es seit 2006 eine Moschee in zentraler Lage in der Lavesstraße, die Gläubige aus der ganzen Region anzieht. Mit Mashall Hakim hat der Afghanische Kulturverein e.V. einen hauptberuflichen Imam, der in Deutschland aufgewachsen ist und Sprache und Alltag der jungen Muslime kennt. Gleichzeitig bringt er die Fachkompetenz aus einem Theologiestudium in Südafrika mit. Beim multireligiösen Friedensgebet, mit dem die Hannoveraner 2015 ein Zeichen gegen die Pegida-Bewegung setzten, und anderen interreligiösen Begegnungen machen die Vertreter der Gemeinde in ihrer traditionellen Kleidung die Vielfalt innerhalb des Islam sichtbar.

    Imam Aldin Kusur (2.v.l.) beim Versöhnungstreffen der vom Bosnienkrieg betroffenen Religionsgemeinschaften 2015. Foto: pkhMit den albanischen und bosnischen Muslimen, die als Arbeitsmigranten oder später als Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien kamen, fand ein europäisch geprägter Islam nach Hannover. Albanischstämmige Gläubige beten in der Moschee des „Islamisch Albanischen Bildungs- und Kulturzentrums e.V.“ am Klagesmarkt. Muslime aus Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien treffen sich in der Islamischen Gemeinschaft in Hannover (Islamska zajednica Hannover e.V.) in Vinnhorst. Die Gemeinde gehört zur Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland, die wiederum Teil der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina ist. „Sie wurde schon 1882 innerhalb des damaligen Staates Österreich-Ungarn als eigenständige Religionsgemeinschaft konstituiert“, erklärt Imam Aldin Kusur. Geistliches Oberhaupt ist der Reisu-l-ulema in Sarajewo. Er ernennt die Imame und geistlichen Würdenträger.

    „Wir sind bewusst an einen sozialen Brennpunkt gegangen“, erklärt Tahir Pak, Vorsitzender des Islamischen Kultur- und Bildungsvereins e.V. In der ehemaligen Polizeiwache am Vahrenheider Markt 10 wurde er 2008 fündig. Hier treffen sich vor allem türkischstämmige Muslime. An diesem Freitag Nachmittag versammelt sich eine Gruppe Frauen, für die der Raum schon viel zu klein scheint, um die niedrigen Lesepulte zum Qur’anunterricht. Religiöse Unterweisung, Nachhilfe für die Schule, immer eine offene Tür und manchmal ein Teller Suppe nach dem Morgengebet: Das sind Paks Rezepte gegen Frust und Perspektivlosigkeit im Stadtteil.

    Die Leute des Hauses: Schiitische Muslime

    Der Trend zur Differenzierung der Moscheenlandschaft lässt sich bei den schiitischen ebenso wie bei den sunnitischen Muslimen beobachten. Die Hannoverschen Schiiten beteten ebenfalls zunächst gemeinsam in einem gemieteten Raum am Ricklinger Kreisel und teilten sich dann in verschiedene Gemeinden nach ihren Herkunftsländern auf. Im religiösen Alltag gibt es wenig Unterschiede zwischen der sunnitischen Mehrheit und den schiitischen Muslimen. Die Wurzeln der Schia liegen in der Zeit nach dem Tod des Propheten: Schiiten sind überzeugt, dass Muhammads Schwiegersohn Ali und dessen Nachfahren die rechtmäßigen Nachfolger als Führer der Gemeinschaft gewesen wären. Die Prophetenfamilie („ahl ul bait“, wörtlich übersetzt: Leute des Hauses, auf Türkisch: Ehlibeyt) wurde in den ersten Jahrhunderten der islamischen Geschichte blutig von den Kalifen bekämpft. Ein Teil der schiitischen Familien kann ihre Herkunft bis heute auf sie zurückführen.

    Dr. Djavad Mohagheghi zeigt Besucherinnen die Ehlibeyt Moschee. Foto: HdR / Annedore Beelte-AltwigNach der Prophetenfamilie ist die türkisch-schiitische Ehlibeyt Moschee in der Nordstadt benannt. An den Wänden des Gebetsraums sind die Namen von Muhammads Tochter Fatima und ihren Nachkommen rundum auf den Leuchten zu lesen. Afghanische Schiiten gründeten die Hasrate Mohammed Moschee in Linden und die Islamisch-Afghanische Gemeinde Payame Nour, die derzeit keinen eigenen Gebetsraum hat. Im Verein Islamisches Zentrum Hannover e.V. haben sich iranisch stämmige Schiiten zusammengefunden. Obgleich sie die Mehrheit unter den in Deutschland lebenden Schiiten ausmachen, ist nur eine kleine Gruppe von rund dreißig Mitgliedern in Hannover aktiv. Auch sie sind derzeit noch auf der Suche nach passenden Gebetsräumen. In der Zwischenzeit traut der Vorsitzende Dr. Djavad Mohagheghi auch schon einmal ein Paar im Besprechungsraum seines Ingenieurbüros. Viele hannoversche Schiiten machen sich auch auf den Weg nach Langenhagen und beten in der traditionsreichen Salman Farsi Moschee. Djavad Mohagheghi ist zugleich seit 2014 Ländersekretär der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) für die Bundesländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen. Die IGS setzt sich ein für eine Vernetzung der schiitischen Gemeinden, für gemeinsame Bildungs- und Jugendarbeit und für eine aktive Beteiligung von Muslimen in Politik und Gesellschaft.

    Bereits seit 1980 trifft sich eine Frauengruppe regelmäßig unter der Leitung der islamischen Theologin Hamideh Mohagheghi. Hier begegnen sich sunnitische und schiitische Gläubige. Seit einiger Zeit ist die Gruppe auch interreligiös offen. Die Frauen lesen den Qur’an und feiern das Opferfest und das Ramadanfest mit ihren Familien gemeinsam. „Ich habe fünf Jahre lang für unsere Gruppe einen theologischen Studiengang angeboten, den acht Frauen mit Erfolg absolviert haben“, berichtet Hamideh Mohagheghi.

    Genau in die oben beschriebene Phase der Neugründung und Etablierung von Moscheegemeinden brachen die Terroranschläge vom 11. September 2001 ein. Plötzlich konzentrierten sich Aufmerksamkeit und Misstrauen auf die Muslime, die ihre Religion bisher weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit gelebt hatten. Der damalige niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann ordnete „Moscheekontrollen“ an: Unabhängig von einem konkreten Verdacht wurden zwischen 2003 und 2009 während des Freitagsgebetes die Zugänge zu der betroffenen Moschee abgesperrt und alle Besucher kontrolliert. Dabei sollten radikale Islamisten und gleichzeitig auch illegale Einwanderer ausfindig macht werden. Die Muslime fühlten sich gedemütigt, vor den Nachbarn und in den Medien bloßgestellt. „Die Brüder und Schwestern hatten Angst, zum Gebet zu kommen“, erinnert sich Hilal Al-Fahad. Nie erhärtete sich dabei der diffuse Islamismus-Verdacht in Hannover. „Wir Muslime hatten keine Probleme in den 70er, 80er und 90er Jahren“, sagt Mohammad Afzal Qureshi bitter. „Jetzt schon. Zahlreiche Muslime haben ihre Arbeitsplätze oder, wenn sie selbständig waren, wichtige Aufträge wegen ihrer Frömmigkeit verloren.“

    Mit Besen und Laufschuhen im Einsatz für die Stadt: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat

    Besonders schmerzlich bekam die aufgeheizte Stimmung nach den Terroranschlägen ausgerechnet eine Glaubensrichtung spüren, die schon seit den 1920er Jahren weltoffene, multikulturelle Gemeinden in Deutschland gegründet hatte und ein Anziehungspunkt für am Islam interessierte Deutsche war: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat. Die Ahmadis verstehen sich als Reformbewegung innerhalb des Islams, wobei sie betonen: Nicht die Lehre bedarf der Reform, sondern die Gläubigen. „Es war das oberste Ziel des Gründers unserer Gemeinschaft, Mirza Ghulam Ahmad, die Distanz zwischen Mensch und Gott zu beseitigen, Liebe und Aufrichtigkeit zu etablieren und die Menschheit – insbesondere die Muslime – zu reformieren“, erklärt Malik Usman Naveed, der als Imam und Theologe die Gemeinde in Hannover und fünf weitere Gemeinden in Norddeutschland betreut. Die Ahmadis sind fest überzeugt, dass Mirza Ghulam Ahmad der "Imam Mahdi", der Verheißene Messias und der Reformer der Endzeit war. Wegen dieser Lehre schlossen islamische Gelehrte die Ahmadiyya 1974 aus der muslimischen Gemeinschaft aus. Daraufhin setzte in Pakistan eine bis heute andauernde Verfolgung ihrer Anhänger ein. Zahlreiche Gläubige flohen nach Europa.

    Die Sami Moschee der Ahmadiyya Muslim Jamaat (Foto: Roger Heimann)In Hannover gibt es seit 1974 eine Ahmadiyya-Gemeinde. Sichtbar für jedermann wird ihr Engagement seit Anfang der neunziger Jahre am Neujahrsmorgen: Dann nehmen die männlichen Mitglieder Besen und Müllsäcke in die Hand und säubern die Innenstadt vom Dreck der Silvesternacht. 2001 erwarben sie von der Stadt ein Grundstück an der Schwarzen Heide am nördlichen Rand von Hannover. Hier sollte die erste von Anfang an als Gotteshaus entworfene und nach Mekka ausgerichtete Moschee der Stadt entstehen. Ein Jahr später hatten 75 Prozent der Nachbarn mit ihrer Unterschrift gegen das Projekt protestiert. Gegen den Bebauungsplan und die Baugenehmigung der Stadt zogen die Anwohner bis vor das Bundesverwaltungsgericht – erfolglos. Bezirksbürgermeisterin Margrit Heidi Stolzenwald sprach von einer „unzumutbaren Belastung für den ganzen Stadtteil“. Nachbarn ließen sich in den Lokalzeitungen mit Befürchtungen zitieren, die Moschee sei „lebensgefährlich“ oder die Ahmadis würden deutsche Kinder in ihre Einrichtung „locken und missionieren“. „So wütende und verletzende Diskussionen gab es noch bei keinem Bau in Hannover zuvor“, resümierte Thorsten Fuchs später in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.

    2008, nach sieben Jahren, konnte schließlich die Eröffnung der Sami-Moschee gefeiert werden. Um noch einmal Thorsten Fuchs und Simon Benne aus der HAZ zu zitieren: „Nirgends in der Stadt wird der Islam so sichtbar wie hier.“ Der strahlend weiße Bau wird überragt von einem 16 Meter hohen Minarett, das allerdings so zierlich gebaut ist, dass niemand hinaufsteigen kann, um zum Gebet zu rufen. Die Männer und Frauen der Ahmadiyya Muslim Jamaat sind gleichermaßen engagiert. Für beide gibt es getrennte Organisationen. Die Gemeinschaft betreibt eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit, koordiniert von der Bundeszentrale. In der Fußgängerzone sind sie regelmäßig mit einem Infostand unter ihrem Motto „Liebe für alle. Hass für keinen“ präsent. Mit „Charity Walks“ tragen sie zur Integration im Stadtteil bei. Auch in Kooperation mit dem Haus der Religionen hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat schon einige Veranstaltungen organisiert.

    Qur’anunterricht schützt vor Extremismus

    Bildung und Unterricht wird in allen Moscheegemeinden großgeschrieben. Manche haben eigens Klassenräume dafür mit Tafel und Schulmöbeln eingerichtet. Den Qur’an im arabischen Originaltext lesen und rezitieren zu lernen ist enorm wichtig für Muslime. Denn dadurch wird die Situation, in der der Engel Gabriel dem Propheten die Texte offenbart hat, immer wieder lebendig gemacht. „Neben dem Lesen und Verstehen des Qur’an geht es auch um das Leben des Propheten, Sozialkunde und Psychologie“, erklärt Rumeysa Evlice von der Frauenabteilung des IGMG-Regionalverbandes. „Das ist ein Gesamtpaket: Religion, Benehmen, Respekt, Integration“, bringt es Yussef Barrahmouni von der marokkanischen Gemeinde auf den Punkt. „Qur’anunterricht ist das, was wir alle brauchen, um Jugendliche vor dem Einfluss von Extremisten zu schützen“, ergänzt Mashall Hakim, Imam beim Afghanischen Kulturverein. Nur, wer seine Religion gut kennt, kann plakative Botschaften entlarven.

    Das ist ein Gesamtpaket: Religion, Benehmen, Respekt, Integration.

    Nicht nur religiöse Bildung, auch den schulischen Erfolg von Kindern und Jugendlichen fördern viele islamische Vereine. In Hannover-Kleefeld gibt es mit den Leinetal-Schulen ein privates Gymnasium und eine Realschule, die mehrheitlich von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund besucht werden. Der Trägerverein steht der Bewegung von Fethullah Gülen nahe, der zuerst in der Türkei und inzwischen weltweit das Ziel verfolgt, den Islam mit der Moderne zu versöhnen. „Baut Schulen statt Moscheen“, rief er seine Anhänger auf: "Unser großer Dschihad ist die Bildung." Aus der Gülen-Bewegung ist das Forum Dialog hervorgegangen, das religionsübergreifend Wissenschaften, Künste und Politik miteinander ins Gespräch bringen will. In Hannover ist das niedersächsische Büro von Forum Dialog angesiedelt.

    Durch die Ankunft tausender muslimischer Flüchtlinge in Hannover ist den Moscheegemeinden eine neue Herausforderung entstanden. Die Aktiven vieler Gemeinden besuchen - insbesondere zu Festtagen - die Unterkünfte, kochen zum Fastenbrechen oder laden die Glaubensgeschwister in ihre Moscheen ein. „Wir haben im Regionalverband eine AG gegründet, um Best Practice-Beispiele aus den Ortsgemeinden zu sammeln“, erklärt zum Beispiel Hacı Davut Toklu von der IGMG. „Bei uns engagieren sich viele Ärzte. Sie haben einen Pool gebildet, um Flüchtlinge medizinisch zu versorgen.“

    Muslime engagieren sich seit langem dafür, dass sie in ihrem Alltag in Hannover den Regeln ihres Glaubens folgen können. Dazu gehört, dass die Moscheegemeinden Pilgerfahrten nach Mekka organisieren, die aktuellen Zeiten für die Pflichtgebete veröffentlichen und sicherstellen, dass ihre Mitglieder Lebensmittel kaufen können, die den islamischen Speisevorschriften entsprechen. Im Dialog mit zahlreichen Einrichtungen der Stadt haben sie dafür gesorgt, dass die Bedürfnisse der Gläubigen berücksichtigt werden: Am Flughafen gibt es ebenso einen muslimischen Gebetsraum wie auf dem Messegelände. 2005 wurde eine exklusive Schwimmzeit für Frauen im Vahrenwalder Bad eingeführt. Schnell waren jede Woche die Schwimmbecken überfüllt, so gut kam die Initiative an. Mittlerweile bietet auch das Stöckener Bad eine Frauenbadezeit an.

    Fünf Leintücher für die Ewigkeit: Muslimische Bestattungen

    Muslimisches Gräberfeld in Stöcken (Foto: HdR / Annedore Beelte-Altwig)Seit 1989 gibt es auf dem städtischen Friedhof in Stöcken ein muslimisches Gräberfeld. Im Dialog haben die Stadt Hannover und die Schura Niedersachsen 2010 eine Lösung gefunden, wie Muslime dem islamischen Gebot gemäß nicht im Sarg, sondern in Leintüchern bestattet werden können. „Wir engagieren uns für die Inklusion der muslimischen Einwohnerinnen und Einwohner und arbeiten daran, die religiösen Vorstellungen mit den vielfältigen Rechtsnormen deutscher Bürokratie in Übereinstimmung zu bringen“, sagt die Leiterin des Bereichs Städtische Friedhöfe, Cordula Wächtler.

    Lange war dabei das Problem, wie man den Toten ohne Sarg in das Grab hinablassen soll. In der Türkei wird ein Grab nur so tief aushoben, dass Männer bis zum Bauchnabel darin stehen und den Toten in Empfang nehmen können. Aber wie sollten die Träger den Verstorbenen in ein Grab nach deutschen Rechtsnormen, das in Hannover mindestens 1,80 Meter tief ist, sicher und würdevoll abladen und wieder heil herauskommen? Abhilfe schafft eine sogenannte Grabklappe: Auf die verschlossene Grabklappe werden Leintücher gelegt, auf die der Tote zunächst gebettet wird. Nun heben die Angehörigen den Toten in den Leintüchern hoch. Ein Friedhofsmitarbeiter öffnet eine Klappe über dem Grab, und der Tote wird mit den Leintüchern herabgelassen. Anschließend steigt ein Angehöriger per Leiter in das Grab. Er richtet den Toten gen Mekka aus und verschließt die Holzverschalung mit Brettern. So kommt der Verstorbene beim Verfüllen des Grabes nicht mit dieser Erde in Kontakt. Männer sind nach islamischem Ritus in drei Tücher gewickelt, Frauen in fünf - damit sie im Jenseits gleich mit einem Kopftuch und einem Wickelgewand bekleidet sind.

    Die Voraussetzungen sind also gegeben, um an dem Ort bestattetet zu sein, wo der Verstorbene gelebt hat und die Familie zu Hause ist. Die Meinungen dazu innerhalb der muslimischen Community sind geteilt: Viele türkisch- und marokkanisch stämmige Muslime schließen nach wie vor Versicherungen ab, die die Überführung des Leichnams und die Bestattung im Heimatland übernehmen. Taufik Acha, ehrenamtlicher Imam der African Muslim Union, hält dagegen: „Da, wo du stirbst, will Allah dich haben.“ Und Mohammad Afzal Qureshi, der Vorsitzende der Ummah-Gemeinde, meint gar: „Die Verstorbenen heimzuschicken ist nicht konform mit islamischen Bestattungsregeln. Der Prophet hat gesagt, die Leiche solle sofort begraben werden.“ Doch eine professionelle Überführung in die Türkei, weiß die muslimische Bestatterin Șenay Çelebi, kann durchaus der schnellere Weg sein. Und auch die Ummah-Gemeinde veranstaltet schon einmal eine spontane Sammlung beim Freitagsgebet, um einem mittellos verstorbenen Flüchtling die Bestattung in der Heimat möglich zu machen (mehr zum Thema Sterben und Bestattung im Islam lesen Sie in unserem Buch „Religionen in Hannover“).

    Grab des osmanischen Kriegsgefangenen Hammet (Foto: HdR / Annedore Beelte-Altwig)In Hannover finden sich zwei der ältesten muslimischen Grabstätten in Deutschland: Der Kavallerist Hammet (eine Abkürzung für Muhammad) geriet 1683 in Kriegsgefangenschaft, als die Osmanen vor Wien geschlagen wurden. Vermutlich wurde er als menschliche Kriegsbeute der Herzogin Sophie übergeben. Ihr diente er bis zu seinem Tod 1691 als Lakai. Hammet war einer von etwa zehn bis zwanzig Osmanen, die nach Hannover verschleppt wurden, weiß Günter Max Behrendt, der Leiter des Sachgebietes Integration bei der Landeshauptstadt. Anders als die meisten seiner Schicksalsgenossen hielt Hammet sein Leben lang an seinem Glauben fest. Deswegen ließen ihn seine Landsleute nach islamischem Ritus bestatten: Außerhalb der christlich geweihten Erde des Neustädter Friedhofs, ausgerichtet nach Mekka, mit einem auf Deutsch beschrifteten Grabstein zu Füßen und einem türkischsprachigen Stein am Kopfende. Neben ihm ruht ein Glaubensbruder, von dem man nur vermuten kann, dass er möglicherweise Hassan hieß. Das türkische Verteidigungsministerium ließ die erhaltenen zwei der ursprünglich vier Grabsteine restaurieren. Im Jahr 2000 wurden sie, zusammen mit einer Gedenktafel auf Deutsch und Türkisch, nahe ihrem ursprünglichen Platz wieder aufgestellt: Am Rand der Grünfläche am Königsworther Platz, parallel zur Körnerstraße – ganz in der Nähe des Ortes, wo sich 1969 wieder Muslime in der Diaspora zum Gebet trafen.

    Gemeinsam für Hannover: Gemeindeübergreifende Organisationen von Muslimen

    „Versäumen Sie nicht Ihre Chance mitzuwirken!“ appellierte ein Flugblatt der Liste 3 – Gemeinschaft der Mitte (G.M.D.) 1992 an die Hannoveraner mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Die gemeinsame Liste der Moscheegemeinden trat 1988 und 1992 zur Wahl des Ausländerbeirates der Stadt an. „Ich habe alle Vereine besucht und nach geeigneten Kandidaten gesucht“, erinnert sich Mohammad Afzal Qureshi. „Viele waren damals noch Schüler und Studenten.“ Dieses öffentliche Engagement war für sie ein erster Schritt zu ihrer späteren Karriere, ergänzt Hilal Al-Fahad. Für Qureshi hingegen war es ein erster Schritt dahin, die Moscheevereine zu einer Zusammenarbeit für die gemeinsamen Interessen zu bewegen. Bei ihrem ersten Anlauf 1988 verzichtete die Liste komplett auf öffentliche Werbung – und erzielte trotzdem die meisten Stimmen.

    Auch wenn der Ausländerbeirat nach zwei Wahlperioden wieder abgeschafft wurde: Der Grundstein für eine Zusammenarbeit der Moscheevereine war gelegt. Im Mai 2012 schlossen sich acht sunnitische, nicht-türkischsprachige Gemeinden zum „Bund der Moscheegemeinschaften in Hannover (BMH)“ zusammen. Sie geben einen gemeinsamen Kalender mit den Gebetszeiten für Hannover heraus und mieten zum Opferfest und Ramadanfest große Säle, so dass mehr als 1.000 Gläubige zusammen beten und feiern können. Junge Muslime treffen sich gemeindeübergreifend in dem Projekt „Young Ummah“. „Wir sind ein freier Zusammenschluss von Jugendlichen aus zehn unterschiedlichen Moscheegemeinden“, erklärt Kerim Gökceoglu von der ATIB Jugend. „Wir haben uns das Ziel gesetzt, den Islam anderen Jugendlichen, egal welcher Ethnie oder Religionsgemeinschaft, auf Deutsch und in verständlicher Sprache näher zu bringen.“ Ein wichtiges Ziel sei dabei auch Gewaltprävention. „Ich hätte es gerne gesehen, wenn in Hannover eine zentrale Moschee für alle Muslime nach dem Vorbild von Paris entstanden wäre“, erinnert sich der langjährige Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg. Doch das Projekt kam über grundsätzliche Überlegungen nie hinaus.

    Auf Landesebene haben sich zahlreiche Moscheevereine bereits 2002 in der Schura Niedersachsen organisiert. „Die erste gemeinsame Sitzung fand in der Ummah-Gemeinde statt“, erinnert sich Mohammad Afzal Qureshi. Das erste und wichtigste Anliegen bei der Gründung des Landesverbandes war die Einführung von islamischem Religionsunterricht in Niedersachsen. Dieses Ziel ist mittlerweile erreicht. DITIB und Schura haben 2015 gemeinsam mit dem Land Niedersachsen und weiteren Partnern die Beratungsstelle „beRATen“ zur Prävention von neosalafistischer Radikalisierung gegründet, die ihren Sitz in Hannover hat. Derzeit arbeiten Schura und DITIB unter anderem daran, muslimische Seelsorger in Justizvollzugsanstalten und Krankenhäuser zu entsenden.

    ZUM WEITERLESEN:

    Der Text stammt aus dem Buch Religionen in Hannover, hg.v. Rat der Religionen, Hannover 2016.
    Darin lesen Sie mehr über muslimische Krankenhausseelsorge und Trauerkultur, über die Gemeinschaft der Arabischen Alawiten und darüber, wie sich muslimische Frauen Freiräume schaffen.

    Ina Wunn (in Zusammenarbeit mit Hamideh Mohagheghi, Bertram Schmitz, Wolf D. Ahmed Aries, Hilal Al-Fahad u.a.), Muslimische Gruppierungen in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007

    Porträts von 14 Moscheegemeinden (Stand 2008-2012) auf der Internetseite der Stadt Hannover

    Geschichte der Muslime in Hannover auf Wikipedia

    Aladin El-Mafaalani, Ahmet Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten – Denkmuster – Herausforderungen. Sankt Augustin 2011
    Hier kostenlos zum Download

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